Ein aktueller Artikel aus der Werbewirkungsforschung bringt uns zu einem Thema, das prädestiniert ist für eine lange Diskussion unter Fachleuten wie unter Freunden: Macht eine über die Grenzen des Anstands hinausgehende Werbung Sinn?

Sofort sind die besonders für die Zeit der 90er-Jahre schockierenden Bilder der Benetton-Werbung mit Aufnahmen zu HIV, Kinderarbeit und ähnlichem im Gespräch. Nachweislich sorgte diese Maßnahme neben den Gerichtsverfahren für eine enorme Bekanntmachung des Namens Benetton und damit der gleichnamigen Marke in der Öffentlichkeit. Aber macht es Sinn, ein solches Risiko einzugehen?

Im Zeitalter der Werbung auf allen Kanälen und in sozialen Netzwerken neigt man vielleicht dazu, über aggressivere Umsetzungen und deftigere Aussagen in der Werbung nachzudenken. Gerade auch, weil diese Maßnahmen bei großem Interesse der Öffentlichkeit eine entsprechende virale Wirkung nach sich ziehen können, also ohne besonderen finanziellen Aufwand auf Social Media–Kanälen weiterverbreitet werden. Wer darüber nachdenkt, sollte sich jedoch in Acht nehmen, allzu bedenkenlos zu agieren.

„Auffallen um jeden Preis“ zahlt längst nicht immer auf Produkt und Marke ein. Das kann auch schnell dem Image schaden, welches dann mühselig wiederaufgearbeitet warden muss. Studien – vor allem bei bestehenden Marken – zeigen, dass eine kreative Umsetzung, gerade auch wenn sie ungewöhnlich oder einfach „anders“ ist, eine mindestens genauso starke Wirkung erzielen kann und eine Marke dabei sehr viel positiver wahrgenommen wird.

Ein gutes Beispiel für hervorragende Umsetzungen sind die vielfach prämierten Ideen der Berliner Agentur Jung von Matt für den Automobilverleiher Sixt in München. Humorvoll, leicht provokant und immer mit einem verschmitzten Lächeln schaffen es die Werber aktuelle Themen und Personen so für das Vermietunternehmen zu nutzen, dass Betrachterinnen und Betrachter noch lange daran denken oder davon sprechen.  Beispiele dazu finden sich hier.

Für neue Marken gar nicht schlecht, wenn…

Aber es geht auch günstiger als bei den Sixt-Strategen. Das zeigt aus der Energiebranche das Beispiel der in Hürth bei Köln ansässigen Gasversorgungsgesellschaft Rhein-Erft (GVG). Zur Einführung eines neuen Stromprodukts wurden die Straßen des neuen Versorgungsgebietes unter Zuhilfenahme von Sprühkreide mit dem bis dato komplett unbekannten Logo der neuen Marke „verziert“. Die Reaktion der Öffentlichkeit war eingeplant und ließ nicht lange auf sich warten. Anrufe beim Ordnungsamt, Anzeigen wegen „Verunreinigung“, Anrufe bei der örtlichen Presse.

Das Ergebnis: Ganzseitige Berichte und anschließend halbseitige Leserbriefe und eine ungemein preiswerte Bekanntmachung der Marke bei gleichzeitiger Reinigung der scheinbaren „Verunreinigung“ mit dem nächsten Regen, zwei Tage nach dem Aufbringen des Kreidelogos. Eine zwar eher im Segment des Guerilla-Marketings angesiedelte Aktion, die aber den Kern einer kreativen Werbung mit einem provokanten und zugleich humorvollen Ansatz verknüpft.

Die daraus resultierende Ordnungswidrigkeitsbuße stand im Vergleich zu den Kosten von ganzseitigen Anzeigen in Tageszeitungen in einem hervorragenden Kosten-Nutzen-Verhältnis, zeigt aber auch, dass „maßvolle Skandalwerbung“ bei der Bekanntmachung einer Marke durchaus eine Berechtigung haben und Sinn machen kann.

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